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Der Krieger im Abendlicht

Wer die Nacht durchschreitet,
findet einen neuen Morgen

Martin Egli (Name geändert) - Strassenbauer

 

Schon als kleiner Junge hatte ich dieses Bild im Kopf – wie aus einem alten Kung-Fu-Film: Ein Kämpfer, allein im warmen Abendlicht, macht langsame, konzentrierte Bewegungen. Die Ruhe vor dem Sturm, vor dem wichtigsten Kampf überhaupt. Damals hab ich’s nicht gecheckt, aber durch Daniel wurde mir klar: Bevor du andere besiegst, musst du erst dich selbst besiegen. Und dein grösster Gegner? Dein verdammtes Ego.

Ich komm aus ’ner Ecke, wo’s oft gekracht hat. Ohrfeigen, Stress, das volle Programm – fast schon normal. Klar, das hat Spuren hinterlassen. Aber irgendwo tief drin wusste ich immer: So kann’s nicht weitergehen. Als ich dann bei Daniels Tai-Chi-Kurs gelandet bin, hat mich dieses Bild vom Kämpfer im Sonnenuntergang wieder voll erwischt. Aber, ey, war ich naiv! Die ersten Monate waren purer Kampf gegen mich selbst. Kaum dachte ich, ich hab’s kapiert, kamen die alten Dämonen wieder hoch – Ängste, Wut, der faule Schweinehund. Und Daniel? Der hat das natürlich sofort gerochen – und genau da ging's los mit dem echten Training.

Gerade die Scheisse mit der Gewalt in meiner Vergangenheit hat mich oft zurückgeworfen. Aber durch Tai Chi hab ich langsam kapiert, warum ich so schnell auf 180 bin und direkt auf Konfrontation gehe. Diese langsamen Bewegungen und das bewusste Atmen haben mir gezeigt: Stärke heisst nicht einfach nur zuhauen. Daniel war dabei kein Weichspüler – eher wie ein Spiegel, knallhart, ehrlich. Wenn die dunklen Seiten in mir hochkamen, hat er nicht weggesehen. Er hatte diesen klaren Blick – der eines Lehrers, der keine Ausreden durchgehen lässt. Manchmal kam er mir vor wie mein schlimmster Feind – aber genau das hat mich gezwungen, hinzuschauen. Genau da lag die Kraft, die mich verändert hat.

Einmal war ich richtig geladen. Daniel hat mich mal wieder gestoppt: "Langsamer, weicher, fliessen. Weniger wollen, mehr spüren, mehr Hingabe. Tai Chi entwickelt seine Kraft in der Sanftheit." Ich war kurz vorm Durchdrehen. "Ich zeig dir gleich, was echte Kraft ist!", hab ich ihn angeschrien. Und er – total ruhig: "Dann tu’s." Ich bin ausgerastet, bin wie ein Stier auf ihn los.

Was dann kam, hat mich komplett aus den Socken gehauen. Im wahrsten Sinne. Mit einer simplen Bewegung hat er meinen Angriff umgelenkt, meine Energie ins Leere laufen lassen. Plötzlich war mein Arm in einem verdammten Hebelgriff – ich konnte nichts mehr machen. Sekunden später lag ich auf dem Boden. Kein Schmerz, keine Gewalt – nur Kontrolle. Und Klarheit: Meine Wut war nichts. Keine echte Kraft. Nur blinder Impuls. Er hätte mich locker verletzen können, hat’s aber nicht gemacht. Stattdessen hat er mir gezeigt, wie schwach ich wirklich bin.

Ich lag da, ausser Atem, voll überrumpelt. Ich hab ihn angeschaut und gefragt: "Wie hast du das gemacht? Wieso hattest du keine Angst? Ich bin wie ein wilder Bulle auf dich los!" Daniel meinte: "Die Angst war da. Aber Tai Chi zeigt dir, wie du trotzdem präsent bleibst. Du bist nicht die Angst – du bist der Raum, in dem sie auftaucht und wieder verschwindet. Tai Chi ist Yin und Yang – wenn Yang kommt, antwortest du mit Yin und umgekehrt. So entsteht Balance. So konnte die Angst mich nicht kontrollieren – ich hab sie geführt."

Dann hielt er kurz inne und sagte: "Aber du hast recht – wenn’s ernst wird, ist nie sicher, wie’s ausgeht. Du hättest mir auch voll auf die Fresse hauen und mich ins Jenseits befördern können."

Wir mussten beide lachen. Ich hab mich entschuldigt. Und dann sagte er mit ernstem Blick: "Weisst du noch, das Bild vom Kämpfer im Sonnenuntergang? Das hier war dein Sonnenuntergang. Der Moment, in dem du nicht mehr geflüchtet bist. Du bist gefallen – nicht vor mir, sondern vor dir. Vor dem Teil von dir, der du nicht mehr sein willst. Jetzt steh auf. Stell dich in den Sonnenuntergang, gehe in dich. Trainiere. Bereite dich darauf vor, der Nacht zu begegnen und deinen härtesten Gegner zu besiegen: Dich selbst."

Ich hab ihn angeschaut und gesagt: "Zeig mir, wie das geht. Ich will auch so kämpfen können wie du."

Er sagte: "Mach ich gerne. Aber solange du innerlich noch nicht in Balance bist, kann ich dich nicht mit anderen trainieren lassen – das wär zu gefährlich. Üb die Formen weiter, bis sie dich durchdringen, bis sie zu einem Teil von dir werden. In China sagt man: Bis Tai Chi zu deiner Natur geworden ist. Dann bist du bereit. Tai Chi heisst: Das grosse Eine, das, was alle Gegensätze harmonisch in sich vereint. Aber solange du die Gegensätze mit Gewalt dominieren willst, kann ich es nicht verantworten, dich nicht in die Geheimnisse der Kampfanwendungen einzuführen."

Das sass! Tiefer als meine körperliche Niederlage.

Daniel sah mich eine Weile schweigend an, dann sagte er: "Aber ich sehe auch, dass diese Wut in dir ein Ventil braucht. In jedem von uns gibt’s zwei Waagschalen – eine Yin-Seite und eine Yang-Seite. Auf deiner Yin-Seite: Sanftheit, Hingabe, Nachgeben. Auf der Yang-Seite: Wille, Kraft, der Drang, dich zu beweisen. Bei dir ist das komplett aus dem Gleichgewicht. Ich möchte, dass du weiterhin deine Yin-Seite trainierst - mit Disziplin in Tai Chi, Meditation, innerer Arbeit. Doch ich möchte auch, dass du deine übergewichtige Yang-Seite entlastest. Such dir eine harte Kampfkunst. Kickboxen oder Thai-Boxen. Hau auf Sandsäcke, trainiere mit Pratzen, geh ins Sparring. Spür, wie’s ist, auch mal selber was einzustecken. Blutige Nase inklusive. Das lernt dich Respekt und Demut. So arbeitest du an beiden Seiten gleichzeitig und findest schneller zur Balance."

Ich hab das ernst genommen.

Heute trainiere ich dreimal die Woche Kickboxen. Zum Tai Chi bei Daniel schaff ich’s nicht mehr, aber ich übe weiterhin die Form, so wie er sie mir in den vier Monaten gezeigt hat. Es hat sich gelohnt, auf ihn zu hören. Im Kickboxen kann ich meine Energie rauslassen, meine Kraft spüren und auch meine Grenzen. Und das Tai Chi gibt mir den Ausgleich, die Ruhe – damit ich nicht wieder in alte Muster verfalle. Die Kombi aus beidem hat mich stabil gemacht. Heute geh ich anders mit Konflikten um, bin klarer im Kopf, stärker im Körper. Ich fühl mich nicht mehr ferngesteuert – ich bin bei mir angekommen.

Tai Chi bei Daniel ist keine Wellness-Nummer, es ist eine echte Reise. Und sie lohnt sich. Daniel ist ein echter Freund, ehrlich und unnachgiebig. Er hat mir gezeigt, dass echte Hilfe manchmal auch einen kräftigen Arschtritt bedeutet. Mit seiner Hilfe bin ich durch die Nacht gegangen, jetzt steht mein innerer Held im warmen Licht des Sonnenaufgangs.


 

Wie ich Martins Erfahrung betrachte:
 

In Martins Geschichte – einem Namen, der den Krieger in sich trägt – begegnen wir nicht dem Bild eines Helden, der auf dem Schlachtfeld Ruhm sucht, sondern einem Menschen, der sich auf eine viel schwierigere Reise begibt: die Reise nach innen.
 

Was er durchlebt, ist ein uralter Pfad, der in allen spirituellen Traditionen beschrieben wird – das Erwachen des inneren Menschen. Dieses Erwachen ist nicht das Resultat einer plötzlichen Erleuchtung, sondern ein langsamer, oft schmerzhafter Prozess der Selbstentdeckung.
 

Martin beginnt seine Reise gefangen in einem Netz aus Gewohnheit, Reaktion und blinder Wut. Er spürt die Rastlosigkeit, die Impulse, das zwanghafte Handeln – und zugleich die innere Starre, die ihn immer wieder in alte Muster zurückwirft. Doch indem er beginnt, sich bewusst zu bewegen, den Atem zu spüren und in der Gegenwart zu verweilen, geschieht etwas Entscheidendes: Ein Raum öffnet sich zwischen Reiz und Reaktion. Ein Moment der Stille, in dem er erkennt: "Ich bin nicht meine Wut. Ich bin nicht dieser Impuls."
 

Der Moment seiner körperlichen Niederlage wird zu seinem spirituellen Durchbruch. Als er auf dem Boden liegt – nicht körperlich verletzt, sondern entwaffnet im Herzen – geschieht das, was viele spirituelle Schriften als Gnade beschreiben: ein Innehalten, ein Erwachen. Dieser Moment der inneren Stille öffnet ihm die Tür zu einer tieferen Weisheit: der Erkenntnis, dass der wahre Sieg nicht in äusseren Erfolgen, sondern in innerer Ruhe und Klarheit liegt.
 

Seine Transformation ist kein sanfter Wellness-Prozess, sondern eine echte Zerstörung – die Zerstörung des falschen Egos, alter Rollenbilder, vererbter Gewaltmuster. Diese Zerstörung ist schmerzhaft, aber heilsam. Sie ist notwendig, damit ein echter Mensch daraus hervorgehen kann. Der Krieger in ihm wird nicht zahm, sondern wahrhaftig.
 

Martin lernt das Prinzip des Fliessens kennen – nicht durch Bücher, sondern durch Erfahrung. "Weniger wollen, mehr spüren" wird zu seinem Weg. Er entdeckt, dass wahre Kraft nicht aus Anspannung, sondern aus Hingabe entsteht. Wie Wasser lernt er, weich und doch stark zu sein, formbar und doch standhaft.
 

Besonders bemerkenswert ist, dass Martin keine spirituelle Identität sucht. Er will kein Meister werden, keine Bühne, keine Anerkennung. Er sucht einfach Frieden. Und in dieser Sehnsucht, in dieser Demut, liegt seine wahre Stärke. Er erinnert daran, dass der spirituelle Weg nichts Elitäres ist, sondern ein stilles Ringen um Wahrhaftigkeit – mit den eigenen Dämonen, mit der eigenen Geschichte, mit dem eigenen Herzen.
 

Seine Reise zeigt uns etwas Fundamentales: Transformation geschieht nicht durch das Verdrängen unserer dunklen Seiten, sondern durch das bewusste Hinschauen. Martin flieht nicht vor seiner Wut, sondern lernt sie zu kanalisieren. Er bekämpft nicht seine Vergangenheit, sondern integriert sie. Er wird nicht zu einem anderen Menschen, sondern zu sich selbst.
 

In seiner Geschichte liegt eine zeitlose Wahrheit: Der Weg zur Befreiung führt durch die Dunkelheit, nicht um ihr zu entkommen, sondern um das Licht in sich selbst zu entzünden. Martin geht durch die Nacht seiner eigenen Seele und findet am Ende nicht den perfekten Menschen, sondern den authentischen – jenen, der seine Schatten kennt und trotzdem im Licht steht.
 

Das ist der wahre Sieg: nicht die Beherrschung der Welt, sondern die Versöhnung mit sich selbst.

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